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TÜRCHEN 3: WEIHNACHTSGESCHICHTE – KEKSE UND WEIHNACHTEN?

Aktualisiert: 7. Dez. 2021


Die Straße war von einer hauchdünnen Schicht Pulverschnee bedeckt, die im Laternenlicht funkelte, als bestünde sie aus tausenden kleinen Kristallen. Nora liebte diesen Anblick unter ihrem Fenster, bei dem man richtig auf Weihnachten eingestimmt wurde. Genau das zeigten auch die Lichterketten und Schwibbögen in den Wohnungen an und die überfüllten Gassen, wenn alle Leute noch Weihnachtsgeschenke kaufen wollten. Leider gab es noch andere Anzeichen auf den vor der Tür stehenden Heiligabend: Viel zu viele Arbeiten in der Schule und der Stress, alle Weihnachtsgeschenke fertig zu machen. Und noch ein Vorzeichen gab es: die Wohnung von Frau Meyers blieb dunkel. Ihr Fenster befand sich genau gegenüber von Nora und lag seit acht Jahren im Schatten, während alle anderen Wohnungen geheimnisvoll in die Nacht funkelten. Es war ein deprimierender Anblick. Nora wollte sich gerade an ihre Hausaufgaben setzen, als sich ein grauer Lockenkopf in ihr Sichtfeld schob: Frau Meyers, die sich ebenfalls an ihr Fenster gestellt hatte. Sie winkte zaghaft in Noras Richtung und Nora winkte zurück. Die alte Frau symbolisierte ihr, am Fenster stehen bleiben zu sollen, und kehrte zwei Minuten später mit einem großen Blatt Papier zurück, auf dem sie mit geschwungener Handschrift ein Wort geschrieben hatte. Perplex starrte Nora es an. Sie musste es mehrmals lesen, um sich zu vergewissern, dass sie verstand, was dort stand:


Kekse und Tee?


Sie konnte nur nicken und holte schnell ihre Jacke, um der Aufforderung nachzukommen. Wenig später saß sie in einem altertümlichen Wohnzimmer, aß Kekse, trank warmen Tee und unterhielt sich mit Frau Meyers. „Weihnachten ist nicht mehr dasselbe ohne Günther“, sagte sie zu Nora. „Ich kann die ganzen Lichter und den Schmuck nicht mehr ertragen, es erinnert mich zu sehr an unsere gemeinsamen Weihnachtsfeiern.“ Dabei sah sie so traurig aus, dass Nora überlegte, was sie sagen sollte. Doch in diesem Moment klingelte das Telefon. Frau Meyers wischte sich eine Träne aus dem Augenwinkel, warf Nora einen entschuldigenden Blick zu und nahm den Hörer ab (sie besaß noch ein Kabeltelefon mit Drehscheibe). Nora blickte traurig in ihre Teetasse. Sie konnte Frau Meyers verstehen. Ihre Mutter hatte einmal zu ihr gesagt, Herr Meyers sei an Weihnachten gestorben. Sie hörte, dass Frau Meyers auflegte und machte sich darauf gefasst, sie zu trösten, doch die alte Dame war wie ausgewechselt. „Das war meine Nichte“, erklärte sie strahlend. „Sie hat mich gefragt, ob sie zu Weihnachten herkommen kann. Ach, ich habe sie so lange nicht mehr gesehen, jetzt, wo sie doch in England wohnt.“ Sie klatschte begeistert in die Hände. „Hach ist das aufregend. Um sechs Uhr abends will sie da sein.“


Nora lächelte auch jetzt, an Heiligabend, noch in sich hinein, wenn sie an den Tag vor anderthalb Wochen dachte. Frau Meyers war seit diesem Moment wie ausgewechselt. Als Nora nämlich am Tag nach dem Besuch aus dem Fenster schaute, sah sie die alte Dame, wie sie ihr Fenster mit Lichterketten und Schwibbögen schmückte und einen Weihnachtsstern auf die Fensterbank stellte. Außerdem war sie gestern für das große Weihnachtsessen einkaufen gegangen, was sie seit Jahren nicht mehr getan hatte. Bei Nora und ihrer Familie ging es langsam auf die Bescherung zu. Ihre kleinen Brüder zappelten schon aufgeregt und sie rannte schnell in ihr Zimmer, um die Weihnachtsgeschenke für ihre Eltern zu holen, als ihr etwas auffiel: Ihr Blick hatte das Fenster gestreift und sie sah sofort das etwas nicht stimmte. Vor dem Haus gegenüber parkte kein Auto und ihre Uhr zeigte Viertel nach sieben an, obwohl die Nichte von Frau Meyers doch schon um sechs hätte kommen sollen. Und als sie Frau Meyers mit einem traurigen Blick am Fenster stehen sah, war sie sich sicher, dass ihr Flug nicht einfach nur Verspätung hatte. Sie würde gar nicht erst kommen. Da hatte Nora eine Idee. Dazu brauchte sie nur ein Blatt Papier und Stifte. Als Frau Meyers sie entdeckte, hielt sie ein Schild in der Hand, auf dem stand:


Kekse und Weihnachten?


Wenige Minuten später klingelte es. Nora wusste, dass ihr der schönste Heiligabend seit lange



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